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Der wahrhaftige Herzschlag des Lieds

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Ein Essay von Thomas Hampson
Übersetzung: Petra Metelko

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Ein Essay von Thomas Hampson

Aus dem CD booklet der 2001 Salzburger Festspiele
Übersetzung: Petra Metelko

Das Lied ist eine Metapher für Phantasie; es ist ein zu Musik verdichteter poetischer Gedanke. Poesie mag viele Formen haben, folgt aber stets dem uralten Trieb, die Geschichte des Daseins zu erzählen.
Die amerikanische Lyrik erzählt besonders reich davon, was es bedeutet, ein Volk zu sein und zu einer Kultur zu werden. Einer Kultur, gehauen aus wildentschlossener Unabhängigkeit von Geist, Herz und Seele und auf ewig verwurzelt in der Unzahl der Geschichten ihrer Völker.

Die Nation „Amerika” hatte für verschiedene Völker schon immer unterschiedliche Bedeutung. Der Ort, den wir die Neue Welt nennen, ist nicht weniger bedeutsam oder real als die Vorstellung von ihr. Unzählige Gedichte und Musikstücke inspirierten sich an echten und imaginären Reisen in ein Land, in dem die Dinge neu gedacht werden konnten. Und während wir vielleicht jetzt im 21. Jahrhundert von „amerikanischer Poesie und Musik” sprechen, kommen wir der wahren Geschichte näher, wenn wir „Poesie und Musik in Amerika” sagen.
Die Erforschung von Lyrik und Lied in Amerika führt wie wenige andere Disziplinen in die Psyche der Neuen Welt. Dichter und Komponisten in Amerika setzten sich stets gleichermaßen mit ihrer Existenz als Künstler wie mit ihrem Kunstschaffen in Amerika auseinander.

Diese Selbstanalyse weist auf eine größere kollektive Erfahrung, genannt „the American Experience”: die Leidenschaft, sich selbst zu verwirklichen; die Herausforderung, als einzelnder unter vielen zu existieren; die Billigung von Individualität im Kontext des Allgemeinwohls; die heftige Haßliebe in der Auseinandersetzung mit Form, sei sie politisch, sozial, religiös oder musikalisch; die verwirrende Obsession mit dem Gegensatz „Kunst” und „Pop”; und natürlich die ständige Sehnsucht, „das” als „amerikanisch” zu definieren.

Der große Philosoph, Poet und Prediger Ralph Waldo Emerson (1803-1882) forderte vom Dichter und Seher, das ursprüngliche Selbst daraus wiederherzustellen, woraus „Sonne und Mond entsprangen” und den Körper als „Umfang der Seele” zu sehen, und inspirierte damit Walt Whitman (1819-1892) zu einer neuen, kraftvollen und glühend egalitären Stimme, wie man sie noch nie zuvor gehört hatte. „Die Vereinigten Staaten sind das größte Gedicht” (Leaves of Grass/Grashalme, Vorwort), und weiter im Sinne Emersons: „Dichter, nicht Präsidenten sind die Schiedsrichter” (“Their presidents shall not be their common referee so much as their poets shall.” As I sat alone by Blue Ontario Shores, Leaves of Grass/Grashalme.) einer Nation. Sie nehmen die Traditionen der Vergangenheit (aller Vergangenheiten aller Völker) auf und verwandeln sie in etwas Neues und eindeutig in ihrer Heimat Verwurzeltes. Zu finden ist dies in einer Sprache, die man laut Whitman an ihrer “volltönenden Kraft, Bandbreite und Aufrichtigkeit” erkennt.

Alexis de Tocqueville hörte diesen Wohlklang, als er weitblickend schrieb, daß „Dichter in demokratischen Zeiten die Schilderung von Ideen und Passionen der von personen und Errungenschaften vorziehen werden (…) das zwingt den Dichter unter die Oberfläche (…) des für die Sinne Fühlbaren (…) um das Innerste der Seele zu lesen”. So sah er diesen “auf sich selbst gestellten Menschen” abseits der massiven physischen und mentalen Strukturen Europas auf den unendlichen Reichtum und die beängstigende Leere blicken, aus denen es die Neue Welt zu erdenken, zu erschaffen und zu verwirklichen galt.

Die „Geburt der Moderne”, wie der Historiker Paul Johnson die von Beaumarchais, Wordsworth, Byron, Heine und Baudelaire eingeleitete Epoche so treffend beschreibt, fand persönlichen, entschlossenen Widerhall in den fernen Stimmen von William Cullen Bryant, Emerson, Whitman, Poe, Longfellow, Dickinson, Thoreau und Melville.
Die starke persönliche Identität, die ins 20. Jahrhundert einbrach und Länder und Kunstformen gleichermaßen zerstörte und wiederaufbaute, war schon immer von einer spirituellen, ja metaphysischen Beharrlichkeit, die sich oft in Sentimentalität und Melodrama zu äußern scheint, in Wahrheit jedoch das Wagnis einer subjektiven Narration eingeht.

Dichter dieses Jahrhunderts wie T.S. Eliot, Wallace Stevens, Langston Hughes, W.H. Auden, Theodore Roethke und Paul Goodman schenkten Whitmans Aufruf Gehört und stellten sich ihren „Traditionen”, zeigten ihre „Heimat” in neuem Licht und gingen unter die Oberfläche, wissend, daß, wie Wallace Stevens es formulierte, „die ursprüngliche Idee nicht von uns kam”.
Diese Ideen, nun Gedanken und Worte einer neuen Welt, stellten einen großen kreativen Impuls für die Komponisten der letzten 125 Jahre dar; Musik in Amerika, die das Beste widerspiegelt, was in den Künsten spontan und per definitionem eklektisch ist.

„I Hear America Singing” versucht ausgehend von nichtamerikanischer Musik die poetische Narration auszuloten, von Komponisten, die zwar entweder aus Europa stammten oder in ihrer künstlerischen Entwicklung europäisch beeinflußt waren, aber dennoch fanden, was für die zur Erfahrung der Neuen Welt werden sollte.

Wobei die Komponisten in diesem Projekt in drei große Gruppen eingeteilt werden können: erstens europäische Komponisten, die Europa nicht verließen und aus der Ferne fasziniert und angeregt wurden, amerikanische Poesie zu vertonen. Diese Gruppe umfaßt Benjamin Britten, Hans Werner Henze, Paul Hindemith, Ralph Vaughan Williams und Charles Stanford.
Die zweite und größere Gruppe sind in Europa geborene und ausgebildete Komponisten, die Amerika als neue Heimat wählten und ihr musikalisches Erbe mit den Gedanken und Worten ihrer neuen Welt verschmolzen. Zu ihnen zählen Sam Adler, Jean Berger, Ernest Gold, Kurt Weill, Sergius Kagen, Wilhelm Grosz und Ruth Schonthal.
Die letzte Gruppe befaßt sich mit der Entwicklung von Komponisten, die in Amerika geboren wurden, ihre unverwechselbare „amerikanische” Stimme jedoch durch Studium und die Aneignung fremder Sprachen in Europa fanden. Zu ihnen gehören Ernst Bacon, Charles Griffes, Edward MacDowell, Aaron Copland, Virgil Thomson, Leonard Bernstein und Ned Rorem.

Während noch viele andere europäische Komponisten in und für Amerika komponierten und zum Teil auch durch amerikanische Literatur dazu inspiriert wurden, konzentriert sich das Projekt einzig auf die Vertonung von in Amerika geschriebener Lyrik. Einem Kaleidoskop gleich bietet jeder Abend eine Vielzahl von Dialogen, Impulsen und Widersprüchen aus persönlichen, kulturellen, ethnischen, politischen und sogar akademischen Traditionen im kreativen Versuch, Wort und Ton verschiedenen Ursprungs zu vermählen.

Denn gerade das ist für mich der wahrhaftige Herzschlag des Lieds: daß es das Leben in der Betrachtung einer größeren Gegenwart für Momente in der Schwebe halten kann und so dem Individuum Gelegenheit gibt, zu sich selbst zu finden.

—Thomas Hampson, Wien, Juni 2001

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Über den Author

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Thomas Hampson

Founder & Director, The Hampsong Foundation

Thomas Hampson, America’s foremost baritone, hails from Spokane, Washington. He has received many honors and awards for his probing artistry and cultural leadership. He enjoys a singular international career as an opera singer, recording artist, and “ambassador of song,” maintaining an active interest in research, education, musical outreach, and technology. Comprising more than 150 albums, his discography includes winners of a Grammy Award, five Edison Awards, and the Grand Prix du Disque.

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„I Hear America Singing“
(Salzburg 2001)

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