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Ein Gespräch mit Thomas Hampson über Hugo Wolf und seine Epoche (2003)

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Salzburger Festspiele 2003

»Ich komme von dieser Zeit nicht los«

Ein Gespräch mit Thomas Hampson über Hugo Wolf und seine Epoche
aus dem Programmbuch Hugo Wolf und seine Zeit
Salzburger Festspiele 2003

Interview: Susanne Stähr

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Ein Gespräch mit Thomas Hampson

Mit zwei Liederabenden widmen Sie sich in Salzburg einem der wichtigsten musikalischen Jubilare dieses Jahre: Hugo Wolf, dessen 100. Todestag wir 2003 begehen. Welche Motive und Gedanken haben Sie bei der Programmplanung begleitet?

Ursprünglich hatte ich eine fünfteilige Reihe konzipiert, die neben dem Hugo-Wolf-Marathon und meinem eigenen Soloabend noch ein Orchesterkonzert, das Italienische Liederbuch und ein Symposion umfassen sollte – umsetzen konnten wir die beiden ersten Projekte. Während der Marathon ganz dem Schaffen Hugo Wolfs vorbehalten bleiben soll, wollte ich bei meinem Liederabend einen Aspekt einbringen, der über Wolf hinausführt. Zunächst hatte ich an eine andere Thematik, eine vielleicht sogar lustigere, gedacht: an Wolf und die Welt der Oper, an Opernkomponisten seiner Zeit namentlich aus Wien, deren Werke er hörte und rezensierte. Die Frage wäre gewesen, was diese Komponisten im Liedbereich geleistet hatten – ich dachte zum Beispiel an Julius Bittner und Karl Goldmark. Aber dann musste ich feststellen, dass die Lieder einfach in ihrer Qualität zu weit hinter Wolf zurückstanden. Der Abend wäre auseinandergefallen und den Salzburger Festspielen auch nicht adäquat gewesen, denn hier geht es ja nicht um ein primär akademisches Ansinnen, um eine Lehrstunde, sondern um die Kunst.

»Hugo Wolf und seine Zeit« ist der erste Abend überschrieben – eine Zeit, die ganz verschiedene, ja widersprüchliche Strömungen in sich schließt: Fin de siècle, Décadence, Gründerzeit und Moderne. War Hugo Wolf ein typisches Kind dieser Zeit oder eher ein Außenseiter?

Im Zuge meiner langjährigen Beschäftigung mit Hugo Wolf fiel mir eine merkwürdige Diskrepanz auf. Wolf schien mir an seiner Zeit vorbeizuleben, ein typischer Einzelgänger, obwohl er eine äußerst starke Persönlichkeit hatte. Er war nie ein wirklich glücklicher Mensch, gehörte auch nicht zu einem festen Kreis von Kollegen oder Gesinnungsgenossen. Wenn er arbeitete – ob als Schriftsteller oder als Komponist – tauchte er ab in eine besessene, geschlossene Welt, die er ganz für sich einnahm. Manchmal kam es mir vor, als hätte er sich mit den Dingen, mit denen er sich beschäftigte, eingesperrt und daran genagt wie ein Hund an seinem Knochen, bis er ihn völlig vertilgt hat. Er wollte herausstellen, was die Wahrheit war, worum es wirklich ging – mit feuriger Intensität. Was um ihn herum geschah, was die Zukunft bringen würde, kümmerte ihn wenig. Mit den Entwicklungen, die das 20. Jahrhundert ankündigen und vorwegnehmen, hatte er nichts zu tun, er blieb ganz dem 19. Jahrhundert verhaftet. Deshalb hat er meines Wissens auch von Richard Dehmel, der nur drei Jahre jünger war, nicht einmal Notiz genommen.

Richard Dehmel bildet das Scharnier zwischen den sechs Komponisten, deren Werke Sie dem Schaffen von Hugo Wolf gegenüberstellen: Denn alle Vertonungen, die Sie in dieser Liedgruppe interpretieren, gehen auf Dehmel-Verse zurück. Warum haben Sie sich für diesen Dichter entschieden und ihn zum eigentlichen Gegenpol Hugo Wolfs erhoben?

Zunächst bin ich ein großer Fan von Richard Dehmel, dessen Gedichte mich sehr ansprechen und der obendrein eine faszinierende Persönlichkeit war. Ganz anders als Hugo Wolf pflegte er enge Beziehungen zu anderen Künstlern seiner Zeit, unterhielt Freundschaften mit Otto Julius Bierbaum, Detlev von Liliencron und August Strindberg, verpflichtete für die von ihm gegründete Kunstzeitschrift Pan die führenden Vertreter der Moderne als Autoren, darunter auch Hugo von Hofmannsthal. Er steht sinnbildlich für die Aufbrüche, die noch in der Lebensspanne von Hugo Wolf ihren Ausgang nahmen – ich denke an den Jugendstil, den Naturalismus und später auch den Expressionismus, Entwicklungen, die sich zum Beispiel im Schaffen von Schönberg deutlich niederschlagen, etwa bei der »Verklärten Nacht«, die ja auch auf Dehmel zurückgeht. Dehmels Gedichte, die zwischen Traum und Wirklichkeit changieren, wurden von fast allen bedeutenden Komponisten seiner Zeit vertont, und Dehmel interessierte sich seinerseits brennend für diese Lieder, er ließ sie sich vorsingen und korrespondierte mit ihren Urhebern: mit Strauss, Pfitzner, Reger und natürlich Schönberg.
Die Welten von Wolf und Dehmel bilden also wirklich Gegenpole, läuft doch der kochende, aufregende Zeitgeist, den Dehmel so meisterhaft spiegelt, an Wolf völlig vorbei. Dehmels Stärke besteht nun gerade darin, die verschiedenen Facetten dieses Zeitgeists aufzugreifen: einerseits mit seinen erotischen Gedichten, die etwas von der Schwüle des Fin de siècle preisgeben, andererseits mit seinem Hang zum Sozialen und Sozialkritischen, der auf die Welt eines Egon Schiele verweist – man nehme zum Beispiel den »Arbeitsmann«. Und auch die Form, die Dehmel wählt, seine freien Verse, geben etwas vom Gefühl der Zeit wieder, sind ein Ausbruch aus dem 19. Jahrhundert. Auf Anhieb war Dehmel der meistkomponierte Dichter seiner Zeit, bis 1911 allein entstanden schon mehr als 500 Vertonungen seiner Gedichte.

Sie werden Dehmel-Lieder von Zemlinsky, Webern, Strauss, Alma Mahler, Schönberg und Joseph Marx vortragen. Warum gerade diese sechs?

Fangen wir von hinten an: Joseph Marx stelle ich an den Schluss, weil seine Tonsprache am ehesten zurückführt in das Reich von Hugo Wolf. Marx ist ein weitgehend in Vergessenheit geratener Meister aus Graz, der mehr als hundert meistenteils wunderbare Lieder geschrieben hat, die unbedingt wieder entdeckt werden und ins Repertoire einkehren sollten. »Waldseligkeit«, ein Gedicht, das auch Richard Strauss und Alma Mahler kurz zuvor schon vertont hatten, stammt aus dem Jahr 1911 und ist Marx‘ einziges Dehmel-Lied. Übrigens hat Marx ganz wie Wolf auch ein »Italienisches Liederbuch« geschrieben, aber sich dabei genau jener Heyse-Verse angenommen, die Hugo Wolf nicht berücksichtigte – wenn man so will also eine Ergänzung…

Schönbergs Lied »Erwartung« – nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen, zehn Jahre später entstandenen Monodram nach Marie Pappenheim – datiert aus dem Jahr 1899, in dem er auch das Sextett »Verklärte Nacht« komponierte. Die Schönheit und Magie seiner Tonsprache, die harmonische Ausgeglichenheit, die Schönberg in diesem etwas morbiden Lied erreicht, finde ich ganz erstaunlich, und sie widerlegt alle Vorurteile.

Zwischen Schönberg, Webern, Zemlinsky und Alma Mahler bestehen bekanntermaßen enge Verbindungen, auch persönliche. Zemlinsky war Lehrer von Schönberg und Alma Schindler, die damals Zemlinskys Geliebte wurde, bevor sie dann Gustav Mahler kennenlernte und heiratete; Webern wiederum war Schüler bei Schönberg. Aber damit nicht genug: Schönberg heiratete 1901 Zemlinskys Schwester Mathilde. Diese vier Komponisten zu kombinieren, ist also in gewisser Weise ein Inside-Joke. Aber die Verbindungen zwischen ihnen begnügen sich nicht mit biographischen Schnittpunkten: Die Metropole Wien um das Jahr 1900 bildet für alle vier den Ausgangspunkt, den Humus, aus dem sich ihre Kunst und Eigenart entwickeln konnte. Dieses Umfeld dürfte das Interesse an einem Poeten wie Richard Dehmel sicherlich gefördert haben, wobei alle vier sich für seine Gedanken- und Liebeslyrik und nicht für die sozialpolitisch motivierten Gedichte entschieden haben. Wie sie die Texte allerdings musikalisch umgesetzt haben, könnte verschiedener nicht sein. Und dies, obwohl alle ganz am Anfang ihrer Karrieren und in enger Beziehung standen und erst später zu ganz anderen Klangwelten aufbrechen sollten: Schönberg und Webern zur Dodekaphonie und damit einer völlig neuen musikalischen Sprache, Zemlinsky zusehends weg von der ästhetischen Einflusssphäre eines Johannes Brahms. Gerade bei Schönberg und Webern finde ich es immer wieder erstaunlich, diese hochexpressiven, sich schwül aufladenden Frühwerke zu hören: Es ist wie vor einem Wolkenbruch, der alsbald niederprasseln wird. Was alle sechs Komponisten des Dehmel-Blocks, also neben den fünf genannten auch Richard Strauss, auszeichnet, ist eben jene Nähe zum Zeitgeist, der bei Wolf vollkommen fehlt.

Hätte Wolf länger gelebt, wie hätte er sich zu seinem Zeitgenossen Schönberg und der Wiener Schule verhalten? Hätte auch er einer freieren Tonalität zugeneigt?

Ich sehe im Verlaufe von Hugo Wolfs Schaffenskurve eine erstaunliche Entwicklung in der Verwendung der Harmonien und der Liedform, die man als Fortsetzung der Errungenschaften von Wagner und Liszt werten kann. Insofern waren seine Lieder durchaus zukunftsweisend und boten Anknüpfungspunkte für die nachfolgende Generation. Aber ich glaube nicht, dass er sich dieser Qualität wirklich bewusst war, und natürlich hat er auch nicht auf alle, die gleichzeitig und nach ihm bedeutende Lieder schufen, stilbildend gewirkt – auch nicht auf Mahler, der ganz anders komponierte.

Allerdings: Wenn man fragt, was wäre aus Wolf geworden, wenn… ?, begibt man sich leicht aufs Glatteis. Es muss Spekulation bleiben, wie sich Wolf entwickelt hätte, wenn er länger hätte leben und arbeiten können. Wir wissen nicht, was Wolf gedacht oder geschrieben hätte, wenn er Werke von Schönberg hätte rezensieren müssen. Und doch habe ich, obwohl es mir fern liegt, Hugo Wolf irgendetwas in den Mund legen zu wollen, das Gefühl, dass er von den »Gurreliedern« fasziniert gewesen wäre – oder auch von Mahlers »Klagendem Lied«. Die fortgeschrittene Ballade, die erzählende Form, verbunden mit einer risikofreudigen Harmonie, hätte etwas für ihn sein können. Wie überhaupt alles, was irgendwie an Wagner anknüpft, ihn fortschreibt oder weiterentwickelt. Ob Wolf dagegen den totalen Bruch mit der Tonalität vollzogen hätte – das wage ich zu bezweifeln.

Zumindest bei der Wahl seiner Textdichter war Hugo Wolf aber einer der letzten Exponenten der Romantik: Mörike, Eichendorff und sogar noch Goethe sind die literarischen Zentren seiner Lieder, deren Gedichte er mit unvorstellbarer Schönheit und mit Tiefsinn in Töne setzte. Nehmen Sie nur den »Genesenen an die Hoffnung« – ein Geniestreich! Oder »Im Frühling«! Das ist mehr als eine Vertonung! Und diese Werke haben so gar nichts zu tun mit Alltag und Wirklichkeit, die Hugo Wolf in den 80er und 90er Jahren umgaben. Ich kann mir gut vorstellen, wie er in Perchtoldsdorf in die Eisenbahn gestiegen ist, noch ganz von seiner eigenen Welt umfangen, und sich fragte: Was ist dies alles? Was höre ich? Natürlich braucht jeder Komponist eine Portion Autismus, denn er muss zu allererst sein Genie hören und spüren, sich darauf konzentrieren, aber bei Wolf ist dieser Zug besonders ausgeprägt. Er muss in einer Art Trancezustand, wie in einem Fieberrausch komponiert haben: Wie sonst könnte es möglich sein, dass er mitunter zwei ingeniöse Lieder an einem Tag, zum Beispiel zwei dieser unglaublichen Goethe-Gesänge, schrieb? Sie erfühlte, durchhörte, auskomponierte? »Grenzen der Menschheit« – einfach hingeschrieben! Unvorstellbar… eigentlich nur vergleichbar mit Mozart, denn nicht einmal Schubert, der viel mehr auf Skizzen zurückgriff, hat derart traumwandlerisch gearbeitet.

Belegen Sie mit Ihrem Programm also die These der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen?

Die meisten Vertonungen der Dehmel-Gruppe entstanden 1898/99 – auch Strauss‘ »Befreit« datiert aus diesem Jahr. Hugo Wolfs große kreative Phase, seine fieberhafte, eruptive Arbeitswut, aber endete schon 1891, danach kamen nur noch kurze und vereinzelte Blütezeiten, dafür lange Unterbrechungen, regelrechte Wüsteneien, bis er 1897 schließlich völlig verstummte und in geistiger Umnachtung versank. In seinen Arbeitsrhythmen kommt mir Wolf vor wie eine Glühbirne, die bald zu erlöschen droht und davor ein letztes Mal besonders helles, heißes Licht spendet. Sicherlich hatte dies mit seiner Erkrankung, der Syphilis, zu tun: Auch bei Franz Schubert oder Robert Schumann, beide ebenfalls Syphilitiker, gibt es dieses Phänomen des Schaffensrausches und des plötzlichen Verblühens. Und ist es nicht sonderbar, dass wir in diesem Zusammenhang von den drei bedeutendsten deutschen Liedkomponisten sprechen? Hat die Krankheit bei ihnen eine erhöhte Sensibilität für die lyrische Form, die Gefühlsaufwallungen, die Empfindsamkeit ausgelöst, die sie zu eben jenen meisterlichen Vertonungen erst ermächtigte? Oder anders gefragt: Hätten sie sich mit Liedern nicht in diesem Maße hervorgetan, wenn sie sich nicht infiziert hätten? Mich würde eine profunde Antwort aus medizinischer oder psychiatrischer Sicht jedenfalls sehr interessieren.

Wie erklären Sie es sich, dass Hugo Wolf kein musikdramatisches Meisterwerk gelungen ist? 1896 fand in Mannheim zwar die Uraufführung des »Corregidor« statt, aber bereits der »Manuel Venegas« blieb Fragment… War Wolf für die Oper prinzipiell verloren?

Nennen Sie mir einen Komponisten, der beides, die intime Miniatur des Liedes und das groß angelegte Panorama der Symphonie oder Oper, wirklich meisterlich beherrscht hätte? Richard Strauss am ehesten (auch wenn ich sein Liedschaffen nicht für vollkommen erachte), Massenet vielleicht noch – aber sonst? Die übrigen sind eher Fälle, bei denen das Handwerk in beiden Genres funktionierte, aber der geniale Gedanke, der kühne Einfall auf eines der Metiers beschränkt blieb. Insofern finde ich es gar nicht so verwunderlich, dass Hugo Wolf den großen Opernerfolg nicht feiern konnte – immerhin haben wir den »Corregidor«, und auch die Fragmente wissen auf ihre Weise durchaus zu faszinieren. Vielleicht kamen diese Werke auch zur Unzeit: Hätte Wolf den »Corregidor« im Jahr 1840 geschrieben, hätte man ihn wohl als Meisterwerk gefeiert. Ich glaube, dass sich in seinem Opernschaffen abermals seine retrospektive Haltung, eine Asychronität zum Zeitgeist bewahrheitet. Was mich im Falle von Hugo Wolf allerdings wesentlich mehr wundert als seine Zurückhaltung gegenüber der Oper, ist die Tatsache, dass er keine bedeutenden Klavierwerke geschrieben hat. Wenn man den phänomenalen Klaviersatz seiner Lieder betrachtet, seinen virtuosen Umgang mit diesem Instrument und seinen Farben und Möglichkeiten, ist dies eine wirklich schmerzliche Lücke. Vielleicht brauchte Wolf das Wort, um zur musikalischen Inspiration zu finden.

Was sind für Sie die hervorstechenden Qualitäten des Liedkomponisten Wolf, die ihn herausheben aus seiner Zeit?

Bei Hugo Wolf klingt kein Lied wie das andere. Aber in jedem gelingt es ihm, einen psychologischen Zusammenhang zu begründen, einen klugen dramaturgischen Bogen zu schlagen. Er versteht es, einen einzigen Moment in all seinen divergierenden Facetten wie unter dem Brennglas in seine verschiedenen Empfindungen aufzufächern, die Vielheit in der Einheit lebendig werden zu lassen. Besonders eindrucksvoll finde ich die Verwebung zwischen Gesangsstimme und Klaviersatz: Wie der Sänger eine Melodie, ein Gefühl anstimmt und es vom Klavier fortgeführt, weitergedacht oder mit einem Subtext versehen wird. Jedes Lied ist eine Welt in und für sich, wiederum ein geschlossener Kosmos, in dem die Bienen summen oder das Wasser rauscht und alles andere ausgeschlossen bleibt. Und Wolf hatte für jeden Dichter, den er vertonte, eine eigene Klangsprache. Bei Goethe zeigt er den Menschen als vor allem denkendes Wesen in der Natur; der musikalische Duktus ist statischer als in seinen anderen Liedern, die Textur mehr in Akkorden gedacht, weshalb die Zeit mitunter wie gefroren scheint. Die viel dramatischeren und farbenreicheren Eichendorff-Vertonungen dagegen kommen dem Loeweschen Balladenstil am nächsten: Das sind humorvolle Personenbeschreibungen, köstliche Skizzen und scherzhafte Genrezeichnungen, die er dort unternimmt – und hier zeigt er meines Erachtens auch die größte Nähe zur Oper. Bei Mörike wiederum ist Wolfs Erzählhaltung linearer und lyrischer angelegt, lautmalerischer und verspielter in der melodischen Figuration. Wenn man diese drei Dichter in Wolfs Vertonungen auf die Form der Sonate übertragen würde, wäre Goethe der Kopfsatz, Mörike das lyrische Adagio und Eichendorff das Scherzo.

Fühlen Sie sich im Wien der Wolf- und Mahler-Zeit geistig beheimatet? Oder (falls dies ein »Oder« ist) gibt es auch den Wunsch, Abstand zu dieser Epoche zu suchen?

Ich fühle mich in der Zeit Hugo Wolfs sehr zu Hause. Es ist eine Fülle von Entwicklungen und Visionen, die in dieser Epoche ihren Ausgang nehmen. Diese Zeit erlaubt einen erschütternden Blick in die Zukunft, deren Erfahrungen, die mittlerweile für uns längst Vergangenheit sein müssten, noch immer nicht abgeschlossen sind. Die Phase von 1885 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs ist ein praller und aufregender Moment in der Zivilisationsgeschichte, der unser Leben nach wie vor prägt und beeinflusst: Plötzlich wurde die Welt viel kleiner, rückte näher zusammen, die Kommunikationswege veränderten sich radikal – hier wurde der Same der Globalisierung gesät. Dies führte dazu, dass in verschiedenen Kulturkreisen unabhängig voneinander dieselben Prozesse einsetzten und ähnliche Ideen geboren wurden. Und denken Sie, was politisch damals alles passierte! Und in den Künsten, die den Aufbruch in die Moderne erlebten… Auch die Krisen und Endzeitstimmungen, die Klagen um einen Werteverfall, die damals kursierten, kennen wir heute noch – auch sie haben uns seither begleitet. Nein, ich komme von dieser Zeit nicht los!

Vor fünfzig Jahren fand bei den Salzburger Festspielen ein legendärer Wolf-Liederabend mit Elisabeth Schwarzkopf und Wilhelm Furtwängler statt. Und immer wieder wurde hier in Sachen Wolf Interpretationsgeschichte geschrieben, man denke nur an Christa Ludwig, Irmgard Seefried, Walter Berry, Dietrich Fischer-Dieskau oder Hermann Prey. Orientieren Sie sich an solchen »Galionsfiguren« – oder suchen Sie Abstand?

In den letzten Jahren ist es Mode geworden, sich von früheren Interpretationen lösen und die eigene Stimme finden zu wollen. Dies brachte für viele den Zwang mit sich, um jeden Preis anders sein zu wollen – zumal für manche der Jungen die Blüte der Eltern- und Großvätergeneration regelrecht verhasst ist und nur als Belastung empfunden wird. Aber Anderssein heißt nicht immer Bessersein. Und gerade in Salzburg muss man mit dem Erbe einer großen Tradition leben. Ich habe zum Beispiel ungeheuer viel von Elisabeth Schwarzkopf gelernt und bekenne das gerne. Zu Hause habe ich eine große Plattensammlung und bewundere alle meine Vorgänger hier in Salzburg. Wenn wir nicht wissen, woher wir kommen und was unsere Tradition ist, werden wir auch keinen Weg in die Zukunft finden. Was nicht heißt, das wir blindlings imitieren sollten. Übrigens scheint mir in anderen Disziplinen der Umgang mit der Interpretationsgeschichte viel selbstverständlicher als bei Sängern: Ich kenne zum Beispiel keinen ernsthaften Pianisten, der sich nicht mit Busoni oder Rubinstein beschäftigte.

In Salzburg treffen Ihre beiden Hugo-Wolf-Konzerte auf eine gewaltige Neugier der Festspiel-Besucher. Andererseits heißt es oft, das Lied sei seine anachronistische Kunst. Haben dramaturgisch durchdachte Liederabend eine Zukunft?

Auf jeden Fall, euphorisch möchte ich sagen: selbstverständlich ja! Sicherlich wird die Frage, wie Liederabende zeitgemäß gestaltet werden können, einige Antworten und Experimente erfahren, vielleicht auch erleiden und erdulden müssen. Aber hinter der Form des Liederabends stehen ganz elementare Bedürfnisse: Menschen schreiben Gedichte aufeinander, singen sich Lieder. Ob das auf einer Wiese ist oder in einem Konzertsaal – diese Kunst hat etwas stets Lebendiges und Unverwüstliches. Und wenn alles, was wir an kulturellen Errungenschaften haben, zusammenbräche und nichts mehr uns bliebe: das Lied, der Gesang wäre das erste, das wieder erstünde, als die ursprünglichste und wesentlichste musikalische Darstellung.

Interview: Susanne Stähr

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und seine Zeit