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Oper: Spiel ohne Regel (2012)

Ein Essay von Michael Hampe

Der Beitrag geht auf einen Vortrag im Don Juan Archiv Wien, gehalten am 6. Dezember 2012, zurück und ist zuerst auf Deutsch erschienen in Don Juan Archiv Wien (Hg.): Vorträge zum Theater 1, Wien: Hollitzer Wissenschaftsverlag 2013, S. 9–35. Dieser Band enthält neben dem hier abgedruckten Vortag auch Texte und Bildmaterialen zum Don Giovanni der Osterfestspiele Salzburg 1987 (Regie: Michael Hampe, Bühnenbild und Kostüme: Mauro Pagano), der letzten Opernarbeit Herbert von Karajans.

Was ist Oper?

Die Frage war gerichtet an zehn Teilnehmer eines Meisterkurses, allesamt junge Opernsänger. Die Antwort: Schweigen. Erst nach einiger Ermunterung kamen zögernd, unsicher tastend einige Vorschläge. Einer meinte: „Die Verbindung von Wort und Musik.“ Ein anderer: „Große Gefühle, öffentlich dargestellt.“ Ein dritter – vielleicht hatte er einmal etwas von Wagner gelesen – schlug vor: „Gesamtkunstwerk“. Die richtige und eigentlich einfache Antwort kam nicht.

„Favola per Musica“ oder „Dramma per Musica“ hieß die neue Kunst nach ihrer Erfindung vor gut 400 Jahren in Florenz, und das drückt genau das aus, was Oper ist. Eine Geschichte durch Musik erzählen – nein, nicht erzählen: darstellen! Eine Handlung ausgedrückt durch Musik! Musik ist das Hauptausdrucksmittel der Oper. So wie im Schauspiel der Text des Dramatikers, im Ballett der rhythmisch bewegte Körper, im Film die bewegten Bilder, „the moving images“, weswegen die Sache in Amerika „Movie“ heißt. Die Musik ist somit Funktion von einem Vorgang. Sie dient dazu, diesen Vorgang auszudrücken.

Hier bereits sehe ich einige Augenbrauen in die Höhe gehen: „Musik dient? Weiß er denn nicht, daß in der Oper die Musik herrscht? Nur Geduld. Soweit sind wir noch nicht. Zunächst dient die Musik. Sehr wohl läßt sich eine Improvisations-Oper vorstellen, in der die Musik als Ausdrucksträger nur dient, in der, ähnlich der Commedia dell’Arte, die Handlung lediglich in ein paar Stichworten, in einem sogenannten Canevas, fixiert ist, und alle Beteiligten auf dieser Grundlage durch improvisierte Musik die Geschichte darstellen. Oder man denke an den Stummfilm. Da saß der Pianist vor der Leinwand und folgte den Bildern. Douglas Fairbanks Junior nähert sich Mae West, und der Pianist moduliert langsam chromatisch in die Höhe, nun ist er ihr ganz nahe, der Pianist geht über in ein harmonisch schwüles Tremolo – das ist der Kuß – und endet in einem harten Sforzato – die Ohrfeige, die Mae dem allzu kühnen Douglas verpaßt. In beiden Fällen, Improvisations-Oper und Stummfilm, dient die Musik ausschließlich. Im zweiten dient sie sogar einer anderen Kunstform, nämlich dem Kino, um dessen Wirkung zu verstärken.

Ihre volle Höhe gewinnt die Oper erst durch die Partitur. Dann allerdings, wenn eine Partitur vorhanden ist, dann herrscht die Musik. Und zwar souverän und uneingeschränkt. Alles hat sich nun nach der Partitur zu richten. Alles muß entsprechend der Partitur eingerichtet und erfunden werden, muß bezogen bleiben auf die in der Partitur niedergelegte Musik. Nur dadurch findet die Oper ihre Rechtfertigung. Andernfalls brauchte man keine Oper machen, denn die Dinge ließen sich ja in anderen Kunstformen besser ausdrücken.

Opernmusik ist also: Musik zu einem Zweck. Nicht nur Musik. Der Unterschied zwischen Musik und Musik zu einem Zweck, ist häufig ziemlich unklar, obwohl er einfach darzulegen ist. „G-G-G-Es“ in der 5. Symphonie von Beethoven drückt aus und bedeutet: „G-G-G-Es“ und sonst nichts. Es ist absolute Musik, abstrakte Musik, wenngleich von größter Gefühlsintensität, es ist das musikalische Material, aus dem Beethoven den grandiosen ersten Satz seiner Symphonie baut. „Zu Hilfe, zu Hilfe sonst bin ich verloren, der listigen Schlange zum Opfer erkoren“, und die dazugehörige hastende, jagende, pulsierende Einleitung mit der schlangenartig sich aufbäumenden Bewegung im Baß aus der Zauberflöte ist etwas ganz anderes. Hier hat die Musik sehr konkrete Dinge auszudrücken und darzustellen. Nämlich: die spezifische Panik des bestimmten Tamino in der einmaligen Situation in dem speziellen Zustand. Die Musik, die abstrakteste der Künste, wird verheiratet mit der dramatischen Kunst, um etwas höchst Konkretes ausdrücken. Die Musik wird gebraucht zu Zwecken. Puristen könnten sogar sagen: mißbraucht.

Dieser Unterschied zwischen Musik und Musik zu einem Zweck ist im Opernbetrieb manchmal bis in die höchsten und verehrungswürdigsten Ränge hinein nicht klar. Da meinen manche, sie machten Musik, während sie in Wirklichkeit doch Musik zu einem Zweck machen. Er ist häufig auch bei der Beurteilung von Oper nicht klar. Da wird geurteilt nach musikwissenschaftlichen, rezeptionsgeschichtlichen, ästhetischen Kriterien – alles ehrenwerte Kriterien –, aber der entscheidende Maßstab, nämlich jener der Wahrhaftigkeit und des Gebrauchswerts der Musik und dessen Umsetzung auf der Bühne, der wird, wenn überhaupt, selten erwähnt. Von „Verdoppelung der Musik“ auf der Szene ist da kritisch die Rede, so als sei Opernmusik unabhängig und nicht von der Szene verursacht.

Vom Gebrauchswert reden, heißt fragen, was sagt die Musik? Isaac Stern, der große Geiger, erzählt, er sei in seiner Jugend von Fjodor Schaljapin für eine Tournee engagiert worden. Was tut ein junger Geiger bei der Tournee eines berühmten Bassisten? Nun, Schaljapin wollte nicht mehr so viel singen und hatte sich deshalb ausgedacht, zwischen seinen Arien könne der junge Mann einige Virtuosenstückchen zum Besten geben. Das ging auch ganz gut, man tourte durch halb Rußland, und Schaljapin kümmerte sich nicht weiter um seinen Kompagnon. Eines Abends aber hörte er doch einmal zu, kam anschließend auf die Bühne und dröhnte: „Lieber junger Freund, Sie singen sehr schön – aber Sie sagen nichts.“

Und Peter Cornelius, der Komponist des Barbier von Bagdad, berichtet, daß Wagner bei der Hauptprobe der Meistersinger-Uraufführung plötzlich wie besessen losgeschrien habe, und zwar im besten sächsischen Dialekt: „Nu singen die Kerls wieder!!“ Er meinte damit die Sänger, die nur Töne produzierten, also Musik machten, statt den von ihm komponierten Zweck der Musik durch ihren Gesang zu verdeutlichen.

Was also sagt die Musik? Wie findet man das heraus? Dazu müssen alle Beteiligten – Sänger, Regisseure, möglichst auch Dirigenten – „Musikdetektiv“ werden. Was tut ein Musik-detektiv? Genau dasselbe wie ein Polizeidetektiv. Der Polizeidetektiv entdeckt einen Toten, durch ein Messer ermordet. Das Messer aber ist nicht mehr vorhanden. Dann findet er am Boden einen Blutstropfen, und noch einen und einen dritten in Richtung der Tür. Aus diesen Indizien schließt er, daß der Mörder das bluttriefende Messer zur Tür hinausgetragen hat. Das heißt, er trifft Rückschlüsse auf den Vorgang insgesamt, der sich hier abgespielt hat. Nichts anderes tut der Musikdetektiv. Hier ein Instrumentationswechsel, die Klarinette setzt ein, da eine harmonische Modulation oder eine dynamische Veränderung und dann ein Tempowechsel. Dies sind sozusagen die Blutstropfen des Musikdetektivs. Aus ihnen schließt er in einer bestimmten Situation auf den gesamten Vorgang, den die Musik ausdrücken soll. Auf diese Weise spürt er in der Partitur die Realität auf, die hinter der Entstehung der Partitur steht und den Komponisten veranlaßt hat, sie so und nicht anders zu schreiben. Der Musikdetektiv muß also den Vorgang gemäß der Partitur erforschen und die notwendigen Maßnahmen treffen, um die Szene mit der vorgegebenen Musik darzustellen.

In diesem Zusammenhang stellt sich eine weitere Frage. Was ist das Orchester? Auch diese Frage, gerichtet an die eingangs erwähnten jungen Opernsänger, wird mit Schweigen beantwortet. Allenfalls undeutliches Gemurmel ist zu vernehmen: das Orchester sei eben da und spiele. Ja, das tut es, ohne Frage. Aber was ist es? Schließlich meine Antwort: „Das Orchester, das bist du!“ Das Orchester drückt aus, was in der handelnden Person auf der Bühne vorgeht, den Charakter, die Situation, den Zustand, Aktion und Reaktion und viele andere Dinge. Das Orchester, das bist du. Deswegen hast du, Sänger oder Sängerin, das Orchester zu kennen und zu wissen, was in ihm vorgeht. Natürlich ist das Orchester auch noch sehr viel mehr. Das Orchester kann Kommentar sein, kann Atmosphäre schaffen, kann mit Leitmotiven Beziehung und Bedeutung herstellen. Es kann neben das Du, d. h. den subjektiven Ausdruck der handelnden Person, auch die objektive Außensicht stellen. Es kann auch gegen die Aktion spielen. Etwa einen Triumphmarsch, zu dem die Opfer des Triumphes vorgeführt werden. Dennoch ist die erste und wichtigste Funktion des Orchesters, die handelnden Personen unter allen möglichen Aspekten darzustellen, was umgekehrt bedeutet, daß diese sich nach dem Orchester zu richten haben.

Wenn aber das Orchester das ausdrückt, was im darstellenden Sänger vorgeht, dann muß man noch einen Schritt weitergehen: Der Sänger muß den Spieß umdrehen und die Musik scheinbar für den Zuschauer erzeugen. Er muß dem Orchester den Grund vorgeben, so oder so zu klingen. Erst muß er sich aufregen, bevor das Orchester aufgeregt spielen kann. Tut er das nicht oder zu spät, hat das Orchester doch gar keinen Grund zur Aufregung. Der Sänger muß also immer etwas voraus sein. Das ist im Übrigen auch im ganz banalen Leben so. Bevor man etwas sagt, muß man zwei Dinge tun: denken und atmen. Nur in ihrem Bezug zum Vorgang auf der Bühne kann man die Musik in der Oper begreifen und beurteilen. Im Schauspiel ist diese scheinbare Spontanität ganz normal. Hamlet spricht seinen berühmten Monolog „To be or not to be“ so, als ob die Worte im Moment aus der Situation der Figur heraus entstünden. Nur wenn das der Fall ist, findet das Publikum: „Ja, der ist gut, dem glaubt man“, obwohl alle doch wissen, daß die Worte vor 400 Jahren von Shakespeare geschrieben worden sind. Dasselbe trifft auf den Sänger zu, nur daß bei ihm statt Worte Musik herauskommt. Man will ihm glauben können.

Und was bewirkt, daß man ihm glaubt? Wodurch identifiziert sich das Publikum mit dem Vorgang auf der Bühne? Was läßt es mit dem Darsteller mitfühlen, mitweinen, mitlachen? Man sagt immer, in der Oper sei es des Sängers Stimme. Genau genommen ist es aber nicht die Stimme, sondern der Klang der Stimme. Wenn ein Geiger Beethovens Konzert spielt, ist man ja nicht in erster Linie an der Geige interessiert, sondern an dem Klang, den der Spieler durch die Verbindung seiner eigenen mit Beethovens großer Seele auf seinem Instrument erzeugt. Und so ist es auch beim Sänger. Die Stimme ist das Instrument. Erst der Klang der Stimme ist es, der Menschen berührt und ihr Interesse an der vom Sänger verkörperten Figur erweckt.

Was aber ist der Klang einer Stimme? Wie entsteht er? Hier meine Definition: „Luft und Idee macht den Klang.“ Der Sänger entläßt Luft aus seinem Körper, die durch die Stimmbänder zum Ton wird. Und der Ton trifft nun auf die „Idee“. Auf die Vorstellung nämlich, ob einer traurig oder fröhlich, aggressiv oder verliebt ist. Eine traurige Stimme klingt völlig anders als eine fröhliche, und jeder hört sofort, ob einer verliebt oder aggressiv ist. Es ist also der zum Ton gewordene Atem, der sich mit einer Vorstellung verbindet und so den Stimmklang erzeugt. Und damit sind wir am Kernpunkt allen Theaters: der Phantasie.

Theater beruht auf Phantasie, ohne Phantasie ist alles auf der Bühne tot. Die gute Nachricht: Phantasie kann man trainieren wie den Bizeps. Und eine trainierte Phantasie wird sofort alles in Bild, in Vorstellung umsetzen. Das Grundelement des Theaters ist Phantasie, eine aus Phantasie erschaffene Realität unter dem Gesetz des „Magic If“ – „Wenn es so wäre“. Da setzt die Phantasie an. Jedes Kind hat sie. Ein Stück Holz wird ihm zum Raumschiff, mit dem es durch das Weltall navigiert. Im nächsten Moment wird das Raumschiff zum Flammenschwert, weil der junge Krieger Star Wars nachspielt, und schon verwandelt sich das Stück Holz erneut in ein Schiff, mit dem der kindliche Pirat durch die Karibik segelt. Der Ruf der Mutter verhallt ungehört, weil das Kind völlig in seiner aus Phantasie erschaffenen Realität lebt. Diese Begabung, aus Phantasie Realität zu erschaffen, ist die Grundbedingung aller darstellenden Künste, gleichviel, in welchem Genre sie sich entfaltet.

Wohl gemerkt, Opernsänger sind keine Schauspieler und sollen es auch nicht sein. Sie sind Musikdarsteller. Der Unterschied ist klar: der Darsteller des Hamlet kann seinen Monolog langsam und nachdenklich sprechen: „To be or not to be…“. Er kann aber auch zynisch lachend rasch herausschreien: „…that is the question.“ Er kann sich seine eigene Melodie sozusagen selber komponieren. Er ist darin frei. Nicht so der Musikdarsteller. Er ist an die Partitur gebunden. Glaubhaft und wahrhaftig jedoch wird auch er nur, wenn er die Musik aus einer durch Phantasie erzeugten Realität entstehen läßt.

Phantasie also steuert über den Atem den Klang der Stimme ebenso wie den Ausdruck des Körpers. Manche Naturvölker hatten für Atem und Seele nur ein Wort. Durchaus plausibel. Denn ohne Atem keine Seele, und „entseelt“, wie das schöne Wort lautet, bedeutet auch keinen Atem mehr. Das Transportmittel für die Seele – denn das ist es, was letztlich vom Darsteller aufs Publikum übertragen wird – das Transportmittel ist der Atem, der Körper und Stimme gleichermaßen steuert.

Wobei zu sagen ist: Der Körper ist das erste Instrument. Entwicklungsgeschichtlich war er Millionen Jahre früher vorhanden, als es noch keine Stimme gab. Der Ichthyosaurus konnte sich unmißverständlich durch seinen Körper ausdrücken. Erst viel später kam die Stimme hinzu. Aber sie gehören zusammen. Vom Atem, man könnte auch sagen: von der Seele gesteuert, die Einheit von Stimmklang und Körperausdruck. Wenn es mit rechten Dingen zuginge, sollte und müßte dabei eine Art Körperpartitur entstehen, die aus der Musik entwickelt, ebenso differenziert wie diese, sich mit der musikalischen Partitur zusammenfügt, sodaß sie zur Einheit werden mit dem Ziel: Verkörperung von Musik.

Soweit in aller Kürze die Grundelemente der Kunstform Oper. Sie sind weitgehend unbekannt. Zumindest werden die Konsequenzen daraus nicht gezogen, geschweige denn in der Praxis umgesetzt. Die Oper ist sich ihrer selbst unbewußt. Was Wunder, daß sie als einzige unter allen dramatischen Künsten in den vierhundert Jahren ihrer Existenz kein Handwerk der Musikdarstellung entwickelt hat. Einen Kanon von Regeln und Techniken, die man kennen und beherrschen muß, bevor man überhaupt die Kunst ausüben kann. Ohne langjähriges Körpertraining kein Ballett, ohne gekonnte Handhabung der Kamera kein Film. Kabukispieler üben viele Jahre, bevor sie überhaupt auf die Bühne dürfen, von der Chinesischen Oper mit ihren hochartistischen Wundern gar nicht zu reden.

Die Oper hat einen solchen handwerklichen Kanon sehr wohl für die Ausbildung der Stimme von der Gesangskunst übernommen und weiterentwickelt, aber eben nicht für die Darstellung von Musik. Denn Singen ist ja noch nicht Darstellen. Das bewirkt, daß der junge Sänger hunderttausend Mal, vielleicht sogar eine halbe Million Mal, seine Stimmübungen macht, bevor er überhaupt zum Sänger wird. Aber er übt nicht drei Mal einen musikalischen Bewegungsablauf, den er für die musikalische Darstellung ebenso benötigt. Nicht weil er das nicht will, sondern weil man ihm nicht gesagt hat, daß es ebenso wie die Stimmübungen nötig ist, um zu der erstrebten Einheit von Körper und Stimme zu gelangen.

In diesem Brachland der Regellosigkeit entsteht dann, was ich im Titel dieses Vortrags versucht habe, auszudrücken: ein Spiel ohne Regel. Anything goes. Alles ist erlaubt. In meinem Metier der Regie bewirkt das beispielsweise: Wenn einer lauthals verkündet, er kenne keine Oper, könne auch keine Noten lesen, vielmehr sei er unmusikalisch und möge überhaupt keine Musik, wird er mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit einen oder mehrere Intendanten finden, die ihn als „Mann neuer Wege“ zur Regie drängen. Analog dazu warte ich auf eine Einladung der medizinischen Fakultät zur Durchführung einer Herzoperation. Selbstverständlich unter starker Beteiligung der Medien. Das wäre dann das erwünschte „Event“. In beiden Fällen, dem der Oper und dem meines Herzpatienten, wird die Enddiagnose lauten: Operation gelungen, Patient tot. Aus derlei Absurditäten entsteht die Diskrepanz zwischen dem Opernbetrieb, der sich fast immer nur mit den banalsten Anfangsgründen des Metiers befaßt, und den Werken, die in ihren besten Exemplaren wahre Menschheitswunder sind.

Zur Ehrenrettung der Sänger sei gesagt, daß sie oft selbst unter widrigsten Umständen aus Begabung und Instinkt vieles richtig machen und sich selber weiterentwickeln. Aber das Richtige wird eben oft nicht gelehrt, es ist nicht kodifiziert, alles bleibt dem Zufall überlassen. Um dem abzuhelfen, habe ich gefragt: Gibt es überhaupt Regeln und Techniken, die als Grundlage für einen handwerklichen Kanon der Oper taugen könnten? Um das herauszufinden, habe ich in den letzten Jahren mit meinen Schülern in aller Welt systematisch geforscht, probiert, getestet, Gegenproben gemacht, gelegentlich auch durch extreme Versuche provoziert. Zu unserer eigenen Überraschung haben wir mehr als hundert solche Techniken und Regeln gefunden, die bewußt gemacht, gelehrt, erlernt, geübt und am Ende beherrscht und angewandt werden können.

Befürchten Sie nicht, daß ich nun alle hundert Regeln und Techniken vorführe. Aber einige Beispiele will ich nennen, um einen Begriff zu geben, um was es sich dabei handelt. Manche erscheinen auf den ersten Blick völlig selbstverständlich, wie etwa diese: Jeder Ausdruck, ob bei Mensch oder Tier, hat eine Adresse. Menschen sprechen miteinander, oder mit sich selbst, oder mit Gott, oder einem Tier, oder mit der Vorstellung von jemand oder etwas. Jedes Gebet richtet sich an ein höheres Wesen, jeder Kampf, geistig oder physisch, kennt einen Gegner. Hamlet, der schon oft zitierte, diskutiert „to be or not to be“ mit sich selbst. Xerxes singt Händels berühmtes Friedhofs-Largo, das eigentlich ein Larghetto und eine Arie ist, an seinen geliebten Baum. Bei abstrakten oder vorgestellten Adressen empfiehlt es sich, eine der grünen Notausgangslichter im zweiten Rang hochpersönlich anzusprechen. „Cruda sorte, Amor tiranno“ – grünes Licht (Isabella, L’Italiana in Algeri), „Komm Hoffnung, laß den letzten Stern der Müden nicht erbleichen“ – grünes Licht (Leonore, Fidelio), „Se vuol ballare il signor contino“ – nein, kein grünes Licht, stattdessen singt Figaro in Richtung der Tür, die zum Gemach des Grafen führt. Der Hund, der bedrohlich knurrt, will den Eindringling warnen. Das Krokodil führt diese Debatte erst gar nicht sondern verschlingt die Adresse kurzerhand. Nochmals: Es gibt keinen lebendigen Ausdruck ohne Adresse. Von dieser universalen Regel gibt es nur eine einzige, traurige Ausnahme: schlechte Oper. Überzeugen Sie sich selbst beim nächsten Opernbesuch.

Eine andere Regel ist die der „6 W“. Ein junger Sänger kommt zum Unterricht, ein wohlgewachsener, gutaussehender Baß mit prächtiger Stimme. „Was willst du arbeiten?“ – „Die Arie des König Philipp aus Don Carlos.“ – „Oho! Gleich nach den Sternen gegriffen, aber bitte, probieren wir es. Wer bist du?“ – „Ich?“ – „Nein nicht du, die Figur, die Du darstellen sollst.“ – „Ach so, ein König.“ – „Richtig ein König. Und wo?“ – „Spanien?“ – „Ja, Spanien, natürlich.“ – „Wann?“ – (Pause) – „Hast du mal was von seiner großen Gegenspielerin gehört? Elisabeth die Erste, nicht die Zweite, die lebt heute“ – (wieder Pause) – „Von Shakespeare?“ – Er leuchtet auf. „Ja da gab’s einen Film“ (gemeint war Shakespeare in Love) – „Na also, immerhin. Ich wollte dich aber gar nicht in Geschichte prüfen. Ich wollte vielmehr wissen, wo und wann singt der König die Arie? In welchem Raum? Zu welcher Tages- oder Nachtzeit?“ – „Weiß ich nicht.“ – „In seinem Studio oder seinem Schlafzimmer. Und was die Zeit betrifft, sie ist doch im Text, den du singst, angegeben. Das erste Tageslicht dringt durch’s Fenster.“ – „Tatsächlich, ja, das singe ich.“ – „Na also. Und jetzt verstehst Du wahrscheinlich auch die lange Cello-Einleitung und kannst von ihr auf den Zustand des Königs bei dem, was er tut, Rückschlüsse ziehen.“ – „Welche Cello-Einleitung?“ – „Nun, am Anfang das Hinabsinken in ein bohrendes Grübeln, danach die langsam kreisende, quälende Bewegung, die dann noch in doppeltem Tempo in die Oktave springt und ihn fast zum Wahnsinn treibt, der furchtbare Verdacht, der ihn quält: ‚Ella giammai m’amò.‘ Wer ist denn ‚Ella‘?“ – „Keine Ahnung. Und das Vorspiel hat der Korrepetitor nie gespielt. Wir haben immer da angefangen, wo ich singe.“ – „Aha. Nun, ‚Ella‘ ist die Königin, und was den König die ganze Nacht wachhält, ist der schreckliche Verdacht, daß sie ihn mit seinem eigenen Sohn betrügt.“

Wenn man dem Studenten seine schütteren Geschichtskenntnisse nachsieht, ist ihm eigentlich kein Vorwurf zu machen. Niemand hat ihm gesagt, worum es in seinem zukünftigen Beruf geht. Der Gesangslehrer hätte ihm beibringen müssen, daß er eine Arie nur sinnvoll gestalten kann, wenn er weiß, in welchem Zusammenhang sie gesungen wird. Der Korrepetitor hätte ihm nicht nur die Noten einpauken, sondern ihre Bedeutung erklären müssen. Wenn Sie meinen, das alles sei ironisch pointiert, dann ist das leider nicht so. Es passiert fast täglich an den Hochschulen, und nicht nur dort, es passiert auch in den Opernhäusern auf den Proben. Darum habe ich die Regel der „6 W“ aufgestellt, die lautet: Wer bin ich? Wo bin ich? Wann bin ich? Was tue oder will ich? Wie tue oder will ich’s? Und vor allem: Warum tue oder will ich’s? Das umschreibt zwar noch nicht die ganze Figur, aber es ist wenigstens eine Art Steckbrief. Wie bei der Polizei, die eine Person sucht. Mit dieser Grundinformation kann unser schon erwähnter Musikdetektiv seine Arbeit aufnehmen.

Eine weitere Regel lautet: Das Bequeme ist der Feind des Ausdrucks. Jetzt denken Sie vielleicht, ich provoziere. Sänger sollen doch mit der nötigen Bequemlichkeit schön singen! Das sollen sie in der Tat. Die Unbequemlichkeit darf nicht so weit gehen, daß das Zwerchfell eingeklemmt ist und der Sänger dadurch beim Singen behindert wird. Was gemeint ist, läßt sich am besten mit Hilfe von Rembrandt zeigen. Für sein Bild Joseph erzählt dem Jakob seinen Traum fertigte er mehrere Vorskizzen an. Die erste zeigt Jakob bequem sitzend, den kleinen Benjamin zwischen den Knien und dem Joseph zuhörend, der direkt vor ihm steht und seinen Traum erzählt.

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Recht und gut, aber Rembrandt war nicht zufrieden, es fehlte an Spannung. Die zweite Skizze zeigt Jakob wieder sitzend mit dem Benjamin zwischen den Knien, aber Joseph steht nun an der Seite, sodaß Jakob sich von Benjamin ab- und Joseph zudrehen muß. Unbequemer, aber offensichtlich spannender. Rembrandt aber hat das immer noch nicht genügt. Die dritte Skizze hat den kleinen Benjamin auf die andere Seite gestellt, sodaß Jakob sich nun geradezu verschrauben muß, um Joseph zuzuhören. Jakob wird dadurch sehr ausdrucksvoll und das, was Joseph mitzuteilen hat, höchst interessant, denn eine solche Unbequemlichkeit nimmt man nicht in Kauf, wenn das Vorgebrachte nicht von großer Wichtigkeit ist.

Nah verwandt mit dieser Regel ist die Technik, Hindernisse einzubauen. Sie stammt von dem großen Schauspieler und Regisseur Fritz Kortner. Er haßte Kompromisse und trieb seine Schauspieler bis zum Äußersten. Nichts konnte seiner Ausdrucksbesessenheit genügen. Ich hatte das schreckensvolle Glück, als Schauspielschüler mit ihm zu proben. Nach langen nervenaufreibenden Stunden schien die Szene endlich einigermaßen zu klappen. Der alte Herr aber maulte herum: „Das alles läuft zu glatt, ich brauche Hindernisse.“ Wir Schauspieler schauten zum Himmel: „Mein Gott, wir sind halbtot und jetzt will er noch Hindernisse.“ Er bemerkte es. „Ja, Sie verdrehen die Augen und denken, der Alte ist Gaga. Er ist aber nicht Gaga, sondern Sie wissen nicht: am Hindernis entsteht der Ausdruck!“ Wie recht er hatte, habe ich erst Jahre später begriffen und bin ihm heute dankbar dafür. Menschen wollen im allgemeinen ihr Inneres nicht zeigen und versuchen, es zu verbergen. Ein Hindernis läßt es hervortreten und deutlich wahrnehmbar werden. Wenn einer zur Tür hinausschaut und sich seitwärts beugt, um etwas zu sehen, das der Türpfosten sonst verdeckt, so wird sein Ausdruck größer und der Gegenstand, den er sehen will, interessanter. Das Hindernis – der Türpfosten – läßt den Schauenden ausdrucksvoller werden. Nun will er zur Tür hinaus, und ein Stuhl steht im Weg. Verzweifelt sinkt er darauf nieder, weil er gerade eine Million verloren hat. Oder er tritt ihn wütend in die Ecke, voller Zorn über den Betrug, der ihn die Million gekostet hat. Und weil das Ganze sich als Irrtum herausstellt, und er die Million in Wahrheit gewonnen hat, springt er vor Freude über den Stuhl. Jedesmal ist der Stuhl – das Hindernis auf seinem Weg – der Anlaß für einen starken Ausdruck, den der Darsteller sonst wahrscheinlich gar nicht hervorgebracht hätte.

Von dem berühmten Bariton Tito Gobbi, der seine Mittel sehr bewußt einsetzte, habe ich die höchst anwendbare Technik gelernt: „Wie du die Füße setzt, ist die Rolle“. Sie können es selber probieren, indem Sie einen Bauern oder Seemann breitbeinig daherkommen lassen. Im Gegensatz zu einem Prinzen, der in edler Beinstellung die Welt von oben betrachtet. Oder indem Sie Beckmesser, das Urbild des pedantischen Kritikers, in einer Art Storchengang die Fehler quasi mit spitzem Schnabel aufspießen lassen. Die Füße verbinden den Darsteller mit dem Boden und bestimmen seine Körperhaltung. Wie viele Tenöre stemmen als feurige Liebhaber unbedarft-breitbeinig ihre Töne heraus, ein Bild unfreiwilliger Komik. Man hat sie nichts Besseres gelehrt.

Eine Oberregel mit vielen Ableitungen lautet: „Das Gleiche ist langweilig“. Zwei Darsteller, die in gleicher Haltung vorne dem Publikum gegenüber stehen, wie es meistens geschieht, sind langweilig. Das Ungleiche dagegen ist interessant. Der Singende sollte deshalb im Verhältnis zum Angesprochenen weiter hinten sein, während dieser vorne mit dem Rücken zum Publikum zuhört. Das ergibt Spannung und Gegenspannung. Alle großen Maler machen es so. Hier der gekreuzigte Christus im Licht, und vorne die Silhouette des römischen Soldaten bei Rembrandt. Hier die aufreizend junge Schöne bei Goya, davor die dunkle alte Vettel, die sie verkauft. Alle Sänger drängen magisch angezogen zur Mitte. Wie langweilig! Rechte und linke Seite völlig gleich. Die Mitte ist allenfalls ein Platz für einen König, vor dem sich der Hof verbeugt. Weit interessanter ist die Stellung im Goldenen Schnitt, etwa bei einem Drittel des Bühnenausschnitts, mit der kurzen Spannung auf der einen und der langen auf der anderen Seite. Das ist nebenbei auch meistens der akustisch vorteilhafteste Platz, in der Scala „Callas-Punkt“ genannt. Hier steht man auch fast automatisch in einem Winkel zur Rampe, was besser ist als die von mir so genannte parallele „Pfannkuchen-Position“. Wie langweilig das Gleiche ist, ließe sich noch an vielen anderen Beispielen zeigen.

Ganz wichtig, und da hapert es bei fast allen, ist „das Voraussein“. Während der Sänger eine Phrase singt, muß er innerlich schon die nächste vorbereiten. Bei Herbert von Karajan waren die Musiker in dieser Hinsicht sozusagen in Abrahams Schoß, weil sie immer im Voraus wußten, was als Nächstes kommt. Ich wollte herausfinden, wie er das macht, und fragte ihn schließlich. „Weiß ich nicht“, brummelte er, „ich mache morgens mein Yoga.“ Ich ließ nicht locker: „Sie dirigieren eine Sache und sind schon bei der nächsten. Das ist doch fast schizophren.“ – „Nein, trizophren.“ (Das ist zwar kein Wort, aber er benutzte es.) – „Trizophren! Ich gebe den Einsatz und muß sofort das zu laute Horn dämpfen, während ich schon im Voraus den nächsten Tempowechsel vorbereite. Man könnte sagen: der Einsatz ist die Gegenwart, das Horn schon Vergangenheit und der Tempowechsel die Zukunft.“ Auf diesen drei Ebenen muß in der Tat jeder Musiker – nicht nur der Dirigent – und also auch der Sänger arbeiten. Vor allem das Vorbereiten dessen, was als nächstes in der Musik passiert, ist von größter Wichtigkeit. Das lernt sich nicht von heute auf morgen und erfordert viel Übung. Durch Karajans „Trizophrenie“ entsteht das, was ich den Lebensfluß in der Musikdarstellung nenne.

Wie entsteht Komik? Auf der Bühne verfolgt man Absichten, man vertritt Standpunkte und man ficht, wenn notwendig ernsthaft miteinander. Kein Mensch ist a priori komisch. Ob etwas als komisch empfunden wird, vielleicht aus einer inkongruenten Situation, durch unvorhergesehen sich widersprechende Ereignisse oder durch was immer, ist eine Entscheidung des Publikums. Komik entsteht nicht auf der Bühne, sondern im Zuschauerraum. Wie überhaupt das Verhältnis von Komödie und Tragödie weitgehend unreflektiert ist. Alle großen Komödien sind gerade noch um Haaresbreite verhinderte Tragödien. Die guten Bürger von Windsor sind gerade dabei, Falstaff aufzuhängen, als der den Bardolfo erkennt, und alle müssen lachen. Ford sagt: „Bei Gott! Hätt’ ich nicht lachen müssen, du würdest jetzt da oben hängen.“ In Figaros Hochzeit ist Figaro verurteilt, Marcellina zu heiraten oder seine Schulden an sie zu zahlen. Geld hat er keines, er muß sie heiraten. Er kämpft um sein Leben wie eine Ratte im Käfig, erfindet die absurdesten Behauptungen, er sei von Adel und unterstünde gar nicht dem Gericht, man hätte bei ihm Gold und Edelsteine gefunden, was ja zeige, daß er von edler Abkunft sei. Der Graf, dem das zu dumm wird, winkt ab und geht. In allerletzter Sekunde ruft Figaro ihm nach: „e sopra tutto“ habe ich hier noch auf dem Arm dieses Zeichen. Marcellina: „eine Spatel?“ „Ja“, sagt Figaro, „woher wissen Sie das?“ Und aus Marcellina bricht es heraus: „Raffaello!“ Der als Säugling ausgesetzte Sohn. Sicher, das ist komisch, aber was wäre, wenn der Graf sich eine Sekunde früher entfernt hätte und Figaro die Sache mit dem Zeichen nicht mehr hätte anbringen können? Wohin wären wir dann geraten? Zu König Ödipus, der Urtragödie am Anfang des Europäischen Theaters, in der der Sohn die Mutter heiratet und mit ihr die eigenen Geschwister zeugt. Eine Sekunde! So eng liegen Tragödie und Komödie beieinander. Auch das ist es wert, gelehrt zu werden, damit das peinvolle Komik-Gehabe auf den Opernbühnen ende, für das der schon erwähne Fritz Kortner die treffende Bezeichnung fand: „Hoppla da Vega Theater“

Und da wir gerade bei Kortner sind: noch ein erhellender Ausspruch von ihm, ein wahrer Fund, der besonders auf die Oper zutrifft: „das Beteuerungstheater“. Der Darsteller „beteuert, daß er liebt oder haßt, aber weder haßt noch liebt er.“ Man kann es allenthalben erleben: das Orchester aufgewühlt, der Gesang in höchster Leidenschaft – und doch fehlt etwas. Der Zustand fehlt, der Atem des großen Gefühls, der allein die Sache glaubhaft machen würde. Der Körper, besonders die Hände des Sängers, verraten ihn und teilen mit: „Es ist gar nicht so schlimm, das Orchester müßte sich eigentlich nicht so sehr aufregen.“ Er beteuert! Es fehlt die aus Phantasie erschaffene Realität seiner Darstellung. In der Oper wird viel beteuert, und der Weg vom Machen zum Sein, der ja das eigentliche Ziel allen Theaters ist, wird selten ganz ausgeschritten.

So wird auch ständig Druck mit Intensität verwechselt. Man sieht häufig Sänger ruckartig nach vorne und nach unten zucken, manchmal erinnern sie dabei an Körner pickende Truthähne. Das ist Druck. Intensität ist immer Atem. Großes Gefühl bedingt großen Atem – das Gegenteil von Druck. Was bedeutende Werke der Oper kennzeichnet, ist ihre emotionale Tiefe und Weite. Wenn wir normal gesunden Menschen 37 Grad im Herzen haben, sind es bei Mozart, Verdi oder Wagner gelegentlich 370 Grad. Wie sollen wir armen Interpreten damit zurechtkommen?

Zum Schluß noch die erste aller Regeln. Sie ist freilich kaum lehrbar und doch die Wichtigste von allen: Sie lautet: „Triff mitten ins Herz“. Ohne diese erste und letzte Regel sind alle übrigen nichts wert.

Regeln kennen selbstverständlich Ausnahmen. Die Dialektik von Regel und Regelbruch ist ja der Motor der künstlerischen Entwicklung schlechthin. Das trifft auf den einzelnen Künstler ebenso zu wie auf die Kunstgattung. Alle großen Künstler waren Regelbrecher. Meistens aus Not, weil sie mit dem bestehenden Regelwerk nicht ausdrücken konnten, was sie empfanden. Regeln sind selbstverständlich Konventionen, Übereinkünfte. Die erste Konvention in der Oper ist zum Beispiel, die Sache durch Musik abzuhandeln. Bedingung ist daher, daß Opernmacher die Musik beherrschen, sonst sollten sie sich besser in anderen Kunstarten betätigen. Unser Verhältnis zur Konvention ist leider sehr gestört. Zu erwarten, daß jeder kleine Provinzregisseur etwas nie Gedachtes, nie Erschautes, vollkommen Unerhörtes außerhalb der Konvention präsentiere, ist natürlich Unfug. Nietzsche sagte sehr schön, die Konvention, fern davon, große Kunst zu verhindern, sei die Bedingung großer Kunst. Das Genie erweist sich eben daran, wie es mit den Konventionen umgeht, sie erweitert und umgestaltet. Auch solche Reflexionen gehören zum Metier, um überhaupt mit großen Werken auf angemessenem Niveau umgehen zu können.

Natürlich erhebt sich nun die Frage, wie eine solches handwerkliches Regelwerk in den gängigen Opernbetrieb eingebracht werden könnte. Mein Antwort: durch Ausbildung und Änderung des Betriebs. Beides hängt miteinander zusammen.

Junge Opernkünstler aller Bereiche stehen dem Opernbetrieb, in dem sie arbeiten oder für den sie erzogen werden, mit großer Skepsis gegenüber. Sie wissen und erleiden täglich, daß er unzureichend ist. Sie wollen besser ausgebildet werden und künstlerisch angemessenere Arbeitsvoraussetzungen haben. Alles, was ihnen hilft, die Grundlagen ihres Berufes besser zu verstehen und umzusetzen, wird von ihnen im allgemeinen geradezu gierig aufgenommen. Sie sind nicht das Problem sondern eher die Lehrer und vor allem das herkömmliche Curriculum der Ausbildung. Dieses muß teilweise neugefaßt und erweitert werden. In der Musical-Ausbildung finden sich viele Elemente, die übernommen werden könnten. Wie grundsätzlich zu sagen ist, daß das Metier des Musiktheaters sich heute am ehesten im Musical findet. Dort ist ohne solides Handwerk kein Auskommen. Für die Opernausbildung könnten somit bei Überwindung traditioneller Mentalitätsbarrieren ohne allzu große Schwierigkeiten die notwendigen Änderungen durchgeführt werden, zumal hier auch schon viel in Bewegung geraten ist.

Die eigentliche Schwierigkeit für Veränderungen beginnt an der Pforte der Opernhäuser, denn die Todsünde der Oper ist: sie lernt nicht! Man kann es drehen und wenden, wie man will, sie lernt nicht! Man schaue sich in der Geschichte der Gattung um. Da gab es von Zeit zu Zeit wunderbare Inseln, auf denen das Musiktheater erblühte und Dinge entstanden, die man nie wieder hätte rückgängig machen dürfen. Gluck war so eine Insel. Wagner, Mahler in Wien, Felsenstein in Berlin. Und jedes Mal kam der große Ozean des Dilettantismus und hat diese Inseln wieder weggespült, und danach war alles wieder wie vorher.

Nochmals, der Fluch der Oper ist, sie lernt nicht. Es sei denn, sie muß! Die harte Notwendigkeit wird den Opernbetrieb zwingen, sich anders als gegenwärtig zu organisieren. Die ökonomische Grundlage ist auf Dauer ebenso unhaltbar, wie die Produktionsmethoden unzeitgemäß sind. Dies aber sind nur die Mittel. Vor allem muß die Oper ihre künstlerischen Zwecke inhaltlich klar und intelligent formulieren, wenn sie noch ernst genommen werden will. Wenn nämlich immer weniger Leute in immer weniger Vorstellungen gehen – was allenthalben der Fall ist –, wird absehbar der Zeitpunkt erreicht werden, an dem die Vielen nicht mehr für die Wenigen zahlen wollen. Der beliebte Brauch, 30 Euro für eine Eintrittskarte zu zahlen und dazu 150 Euro als Geschenk des Subventionsgebers zu erhalten, wird gesellschaftlich nicht mehr lange akzeptiert werden. Und in der Tat: Nähern wir uns damit nicht wieder den feudalen Zeiten des Herzogs Karl Eugen von Württemberg, der seine Untertanen als Soldaten verkaufte, um die Oper für seine Hofgesellschaft zu finanzieren?

Wer das gegenwärtige Opernwesen als unangemessen betrachtet, wird beim Blick in die Operngeschichte allenfalls Trost in der Tatsache finden, daß er sich in bester Gesellschaft fühlen kann. Schon bald nach der Erfindung hat sich ihr erster Großmeister, Monteverdi, in Briefen bitter über Abstriche an der neuen Kunst beklagt. Glucks Zornesausbrüche waren in Wien und Paris ebenso bekannt wie gefürchtet, Mozarts wutschäumender Brief an den Mannheimer Hofrat Klein über die Wiener Zustände ist noch wenig im Vergleich zu Wagners lebenslangem Kampf gegen die Opernverhältnisse seiner Zeit. Und Verdi schrieb in hohem Alter als Fazit an seinen Verleger: „Ich für meinen Teil erkläre, daß es nie, nie, nie!! jemand gelungen ist, alle von mir beabsichtigten Wirkungen herauszuholen. Niemand!!! Nie, nie!!! Weder Sänger, noch Dirigenten, niemals, nie!!!!!“

Verdis Bannfluch gegen den Opernbetrieb soll aber hier nicht das letzte Wort sein. Vielmehr möchte ich noch einen Aspekt der Oper nennen, der sie bei allem Leiden an ihrer Unzulänglichkeit recht eigentlich unwiderstehlich und, wie ich glaube, auch zukunftsfähig macht. Die Oper kann nämlich etwas, was keine andere Kunstform kann. Was sie in gewisser Weise sogar mit der fortgeschrittensten modernen Welterkenntnis verbindet. Jede andere Kunstform muß einen Ausschnitt wählen. Ein Bild ist immer ein Ausschnitt. Der Film beruht auf einer Abfolge von Bildern, meist in Schnitt und Gegenschnitt. Die Kamera muß auswählen. Selbst der Roman bedarf der zeitlichen Abfolge auch der schnellsten Gedankensprünge. Und eine Plastik läßt sich zwar von allen Seiten betrachten, aber eben nicht gleichzeitig. Anders die Musik und durch ihre Konkretheit ganz speziell die Oper. Ein zweistimmiger Kanon: „Frère Jacques, Frère Jacques dormez-vous.“ Man hört die erste Stimme und die zweite, jede für sich und gleichzeitig beide zusammen. (Nebenbei ein gutes Beispiel für Dialektik, These, Antithese und Synthese). Dem Kanon kann man nun Stimme drei, vier und fünf hinzufügen, ein Ensemble. Immer noch hört man jede einzelne Stimme und immer alle zusammen. Weiter läßt sich noch ein Kommentar vernehmen. Etwa, daß Stimme eins lügt und Stimme vier das weiß und sich amüsiert. Mehr noch: Das Orchester läßt wissen, daß aus den dargestellten Ereignissen ein Sohn mit einem Schwert hervorgehen wird. Dann ist es ein Leitmotiv. Und wem das noch nicht reicht, der kann auch noch den Standpunkt des lieben Gottes hörbar machen, der auf seine Geschöpfe schaut und sich zu jedem seinen Teil denkt, sozusagen die objektiven Aspekte mit den subjektiven verbindend. Immer alles einzeln und gleichzeitig. Ich wüßte keine andere Kunst, die ein so vollständiges, vieldimensionales Weltbild zeigen kann wie die Oper. Diese Vieldimensionalität verbindet sie mit der modernen Welterkenntnis. Die allerneuesten Vermutungen gehen sogar dahin, daß es außer unserem Universum noch viele andere Universa gibt, wir also in einem Multiversum existieren, gleichzeitig entstehend und vergehend in vielen Dimensionen. Im kleinen kann das auch die Oper und praktiziert es sozusagen täglich. Sie kann uns in ihren besten Momenten einen Begriff geben von dem, was ahnbar, wenn auch jenseits menschlicher Erkenntnismöglichkeit liegt. Mit Goethe gesprochen: „Gestaltung, Umgestaltung, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung“. Theologisch hat Nicolaus von Cues das auf die schöne Formel der „Coincidentia Oppositorum“ gebracht, und nichts anderes hatten die Alten mit der Idee der „Harmonie der Sphären“ im Sinn. Ich breche hier ab und kehre zurück zur Erde. Hier gilt: Angesichts der wunderbaren Möglichkeit, die Welt vieldimensional durch Musik darzustellen, sollte sich der Opernbetrieb ein wenig ernsthafter um die Oper bemühen. Sie ist materiell, geistig und künstlerisch jede Anstrengung der Besten wert.

Über den Autor

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Michael Hampe

Schauspieler, Schauspiel- und Opern-Regisseur und Intendant

Michael Hampe hat als Opernregisseur an den bedeutendsten Bühnen inszeniert, unter anderen an der Mailänder Scala, am Londoner Royal Opera House Covent Garden und an der Pariser Opéra. Als Schauspielregisseur war er unter anderen bei den Schwetzinger Festspielen, den Luzerner Festwochen, am Schauspielhaus Zürich und am Staatsschauspiel München aktiv. Zu seinen Lehrtätigkeiten gehört eine Professur an der Staatlichen Musikhochschule Köln.

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