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Mahlers Wunderhorn-Klangwelt

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Essay aus dem CD booklet der 2011 Deutsche Grammophon recording von Gustav Mahler’s „Des Knaben Wunderhorn" mit Thomas Hampson und den Wiener Virtuosen. Copyright 2011 / This project was funded by the Hampsong Foundation.

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Mahlers Wunderhorn-Klangwelt

Gustav Mahler hat mit seinen vierzehn Vertonungen aus Des Knaben Wunderhorn, die während und zwischen seinen symphonischen Werken über fast zehn Jahre verteilt entstanden, seine Vorliebe für bestimmte literarische Genres dokumentiert und zugleich eine musikalische Gattung nachhaltig zum Leben erweckt, die davor noch wenig verbreitet war: das balladenhaft-humoristische Orchesterlied.

Die sprachlichen Grundlagen für seine Vokalkompositionen hat Mahler schon sehr früh in seinem Leben aus einem Fundus geschöpft, der ihm angeblich erst nach der Komposition der selbstgedichteten Lieder eines fahrenden Gesellen in Buchform zugänglich wurde: der im 19. Jahrhundert weit verbreiteten »Volkslied«-Gedichtsammlung Des Knaben Wunderhorn, die die beiden Romantiker Achim von Arnim und Clemens Brentano 1805 zu veröffentlichen begonnen hatten. Mahler griff also damals ausschließlich auf »alte deutsche« Literatur zurück, wenn er sich sprachlich-musikalisch betätigte(»Alte deutsche Lieder« ist der originale Untertitel der Volkslied-Sammlung.)

Seine Verarbeitung der Textvorlagen geht weit über das hinaus, was üblicherweise als Vertonung bezeichnet wird. Nicht nur einzelne Formulierungen, sondern ganze Passagen und Strophen sind von Mahlers künstlerischer Umgestaltung betroffen und oft durch eigene Worte oder Verse ersetzt. »Das sind Felsblöcke, aus denen jeder das Seine formen darf«, soll er dieses bis zur Montagetechnik ausgeweitete Verfahren begründet haben. Die Wunderhorn-Texte sind für ihn also Bestandteil seines kompositorischen Entwerfens und Formens.

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Während der Theatersaison 1892 hat Mahler, damals Opern- und Konzertdirigent in Hamburg, in weniger als drei Monaten seine ersten fünf Orchesterlieder geschrieben – nach eigener Aussage »10 neue Lieder«, da er die Klavierfassungen und die Orchestrierung stets als getrennte Kompositionsprozesse betrachtete – und sie »Humoresken für eine Singstimme mit Orchesterbegleitung« genannt. Damit bezeichnete er so unterschiedliche Werke wie die »Soldatenlieder« Der Schildwache Nachtlied und Trost im Unglück, die »Tanz- oder Spottlieder« Verlorne Müh’! und Wer hat dies Liedlein erdacht?! sowie die hintersinnige Allegorie Das himmlische Leben.

So unterschiedlich wie die Texte, die musikalische Faktur und die philosophischen Aussagen von Mahlers Orchesterliedern sind auch ihre jeweiligen Schicksale im Hinblick auf Aufführungen und Drucklegung. So wurde Das himmlische Leben von Mahler selbst zumindest einmal – 1893 in Hamburg – noch ungedruckt zunächst als Orchesterlied zur Aufführung gebracht, um dann in wesentlich uminstrumentierter Form schließlich zum Schlusssatz und motivisch-gedanklichen Kern der erst 1899 komponierten Vierten Symphonie zu werden.

Die verschiedenen Stilebenen der »Humoresken«, »Balladen« oder »Grotesken«, die in den vierzehn Wunderhorn-Liedern aufeinandertreffen, haben bereits zu Mahlers Zeit eine Auffassung oder Gruppierung als Zyklus von vornherein ausgeschlossen, ganz abgesehen von der oft weit auseinander liegenden Entstehungszeit. Daher ist es – sicherlich durch die Sammelpublikation begünstigt – ein Irrglaube des 20. Jahrhunderts, dass die Reihenfolge der Lieder im Druck für eine Aufführung verbindlich sein sollte. Vielmehr lassen sich für die inhaltlichen und stilistischen Bereiche im Grunde vier Begriffe bzw. Begriffspaare denken, unter denen man sie zusammenfassen kann: Kinderlieder –Tanzlieder – Spottlieder; Naturbilder – Fabeln und Parabeln; Diesseits und Jenseits; Soldaten- und andere Schicksale.

Durch ein selbst schon »humoristisch« anmutendes Missverständnis im ersten Jahrzehnt der Mahler-Renaissance (1950–1960) in den entsprechenden »Zwei-Personen-Liedern« ist ferner eine Art »Aufführungspraxis« für zwei Sänger »im Duett« entstanden, die heute endgültig wieder ad acta gelegt sein sollte: Mahlers »Gesänge für eine Singstimme mit Orchesterbegleitung« sind grundsätzlich Balladen und erfordern einen bald distanziert kommentierenden, bald »im Affekt« beteiligten Erzähler, der die nötigen Stimmungen wiedergibt. Unabhängig von der Stimmlage sind die meisten dieser Lieder daher wohl auch geschlechtsneutral gedacht.

Wie Mahler dachte und instrumentierte, wenn er ein Orchesterlied – und nicht ein symphonisches Stück – schrieb, lässt sich an der erstaunlichen Tatsache ablesen, dass die Fischpredigt als Lied unabhängig mitten in der Konzeption einer möglichen zweiten Symphonie entstand: Die Reinschrift des Orchesterliedes ist mit »1. August 1893« datiert, das sind sechzehn Tage nach der skizzenhaften, aber inhaltlich fast vollständigen Niederschrift des wesentlich anders und ungleich größer dimensionierten späteren dritten Satzes für die Symphonie.

Mahler selbst hat 1905 in einem Brief an Richard Strauss ausdrücklich betont, dass seine Orchesterlieder »Kammermusik« seien und dass er in Wien als Aufführungsort ganz bewusst nicht den großen, sondern den kleinen Saal gewählt habe – dafür führte er sein ganzes Liederprogramm dort zweimal auf (am 29. Januar und mit kleinen Umstellungen am 3. Februar). Es ist zwar schwer vorstellbar, wie in dem heutigen Brahmssaal im Wiener Musikvereins­gebäude alle Instrumente aufs Podium gepasst haben sollen, die z.B. für Revelge oder Der Schildwache Nachtlied benötigt werden, aber über seinen gegenüber den Symphonien beträchtlich reduzierten Streicherapparat haben wir Belege in Form von erhaltenem Aufführungsmaterial zu etlichen der dort gespielten Lieder. Seiner eher aufwendig besetzten Bläser- und Schlagwerkgruppe (in zehn der vierzehn Lieder sind vier Hörner verlangt, zu denen meist zwei Trompeten kommen) stellte Mahler demnach ganz bewusst eine schlanke, kammermusikalische Streichergruppe zur Seite, so dass die instrumentalen Gewichtsverhältnisse rund um den Sänger oder die Sängerin von geradezu gnadenloser Durchsichtigkeit gewesen sein müssen.

Die zeitgenössische Kritik war damals durchaus hellhörig für die Klangfarben, die in den Orchesterliedern aufhorchen ließen: »Denn der Mache nach ist jedes der Mahlerschen Lieder ein Phänomen, und kein Orchester, weder das Wagnersche, noch das Lisztsche, oder das Straussche klingt so wie das Kammerorchester Mahlers, dessen Eigenart die quarrenden gestopften Trompeten, die tiefen Holzbläser, die leise gellenden gestopften Hörner, die klirrenden kleinen Trommeln, die sto­ßenden Sforzati, die rhythmischen Rucke, die nervöse Energie u. dgl. m. sind.« In dieser Instrumentation »ruht das Geheimnis aparter Wirkungen, ein Geheimnis, das oft nur Ökonomie heisst«, schrieb Ernst Decsey über Mahlers Konzert am 1. Juni 1905 in Graz. Er hat damit auch erkannt, wie sehr für Mahlers Liedstil die Balance und die Durchsichtigkeit essentiell sind; der Sänger ist zuweilen fast mehr Kommentator des instrumentalen Geschehens. Unsere Aufnahme, die dem Notentext der Neuen Kritischen Gesamtausgabe der Werke Gustav Mahlers folgt, stellt nun den Versuch dar, diesem vermuteten Klangideal auf der Grundlage einer kammermusikalischen Besetzung in jeder Hinsicht nachzukommen.

Wenn Mahler im Hinblick auf seine 1899 entstandene (ebenfalls »Humoreske« genannte) Revelge sagte, »dem Rhythmus dieses Liedes mußte nichts weniger als der 1. Satz meiner Dritten als eine Studie vorausgehen«, so umreißt er damit die Bedeutung, die sein Liedschaffen in seinem kompositorischen Denken einnimmt.

© Renate Stark-Voit und Thomas Hampson, 2010

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Essay aus dem CD booklet der 2011 Deutsche Grammophon recording von Gustav Mahler’s „Des Knaben Wunderhorn" mit Thomas Hampson und den Wiener Virtuosen. Copyright 2011 / This project was funded by the Hampsong Foundation.

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